Kunstmagazin / art magazine
Wozu sammeln wir eigentlich all die Sachen, die sich in Archiven befinden? All die Bilder und Objekte, Handschriften und Dokumente, Geschichten und Gedichte? Und was bedeuten sie für uns 2024, in einer Zeit, in der in vielen Weltgegenden Kriege und totalitäre Strömungen soziale Strukturen aus dem Gleichgewicht bringen und ökologische Krisen sich häufen?
Das Berliner Künstlerduo Böhler & Orendt zeigt in seiner Einzelausstellung Memory Movers im Neuen Museum Nürnberg eine raumgreifende Installation mit über hundert Archivalien aus mehr als 50 Archiven. Mit multimedialen technischen Mitteln und ästhetischen Bezügen auf Videogames, Hollywood-Blockbuster und die griechische Mythologie haben die beiden Künstler eine Art interaktive räumliche Erzählung entwickelt, in der sie die aktuelle Relevanz von Kultur-Archiven reflektieren.
Das Szenario, durch das sich die Besucher:innen dabei bewegen, erinnert an ein Standbild aus einem surrealen Film: Vor drei dunklen Tunneleinfahrten schlängeln und stauen sich aktuelle und historische Autos, Fahrräder, Handkarren, Mopeds, Eiswagen und andere Vehikel quer durch den Ausstellungssaal des Neuen Museums. Sie sind schwer beladen mit Kisten, in denen sich Archivobjekte aus unterschiedlichsten Zeiten und Kontexten befinden, die Böhler & Orendt für die Ausstellung ausgewählt haben.
Beim Erkunden dieser Umgebung können sich die Besucher:innen von digitalen Leit-Geistern führen lassen, die in hohen, halbtransparenten Hüten wohnen. Diese im Narrativ der Ausstellung „Daimons“ genannten, speziellen Audio-Guides flüstern den Menschen, die sie begleiten, komische, rührende, poetische und philosophische Gedanken zu den sie umgebenden Dingen ein – ähnlich ihren gleichnamigen mythologischen Vorfahren.
Von außen betrachtet werden die Besucher:innen durch die sprechenden Kopfbedeckungen selbst zu Performer:innen, zu aktiven Mitspieler:innen in Memory Movers. So sind am Ende sie auch diejenigen, die den Sinn der gesammelten Gegenstände bestimmen, indem sie – angeregt durch die Einflüsterungen der Daimons – beginnen, über die archivierten Dinge und deren historische Hintergründe nachzudenken.
Kultur erscheint in Böhler & Orendts Auswahl von Archivobjekten als ein komplexes Phänomen, das sich allmählich aus einer Vielzahl von teils gegensätzlichen, teils parallel verlaufenden Motivlinien menschlichen Denkens und Handelns entwickelt, und nie im Sinne einer einzigen, sinnstiftenden Bedeutung gelesen werden kann. So eröffnet Memory Movers spielerisch einen Diskurs über die Bedeutung eines vielfältigen und diversen Archivierens von Kulturgütern: Was haben all diese Objekte mit unserer heutigen Lebenswelt zu tun? Und wie können wir unsere jungen und alten Sammlungen neu betrachten und interpretieren?
Wenn die Menschheit 2024 in der Lage ist, den immensen Wert historischer Kulturgüter zu erkennen und sich um deren Bewahrung zu bemühen, warum verändert und gestaltet sie die Welt dann weiterhin so, dass die vollständige Vernichtung dieses kulturellen Erbes zunehmend möglich erscheint?
Durch ihre Auswahl schaffen Böhler & Orendt eine einzigartige simultane Präsenz von äußerst heterogenen Archivalien. So finden sich etwa fotografische Zeugnisse der Anti-Atommüll-Proteste in Gorleben neben bekannten Werken von Hannah Höch, Kurt Schwitters und Marcel Duchamp wieder oder die historische Aufnahme eines Tanzstücks von Sigurd Leeder neben einem Circus Roncalli-Playmobil-Set. So „sprechen“ in dieser Ausstellung die Objekte nicht nur (durch die Daimon-Guides) zu den Besucher:innen, sondern treten auch zeit- und raumübergreifend miteinander in Kommunikation: Sie kommentieren und erschließen sich gewissermaßen gegenseitig durch ihre Verschiedenartigkeit.
Die Ausstellung Memory Movers wird nur im Neuen Museum Nürnberg zu sehen sein. Sie wurde von den Künstlern im Auftrag des Neuen Museums und des Instituts für moderne Kunst entwickelt. Für die Zusammenarbeit haben Böhler & Orendt Institutionen eingeladen, die seit Jahrzehnten in ihren jeweiligen Bereichen eine je eigene, teils hoch spezialisierte Erinnerungskultur pflegen. Das sind Archive bekannter Institutionen, wie etwa das Kasseler documenta archiv, das Archiv des Hauses der Kunst in München oder das Schweizer Archiv der darstellenden Künste, aber auch jüngere Archive, die auf zivile Initiativen zurückgehen, wie zum Beispiel das Kölner Dokumentationszentrum über die Migration in Deutschland, das Berliner Archiv für Alternativkultur oder das Zentrum für Queere Geschichte Wien.
Seit Beginn ihrer künstlerischen Zusammenarbeit 2008 befassen sich Matthias Böhler (geb. 1981 in Aachen, DE) und Christian Orendt (geb. 1980 in Sighișoara, RO) mit den tragischen, komischen und absurden politischen sowie ökologischen Auswirkungen des menschlichen Handelns auf das Schicksal der Erde. Sie haben dabei eine charakteristische künstlerische Arbeitsweise entwickelt, die man als medial hybrides Storytelling bezeichnen könnte: Unter freiem Einsatz unterschiedlicher Mischformen zeichnerischer, digitaler, bildhauerischer und performativer Techniken sowie wie von Praktiken aus dem Bereich des Bühnenbilds und des Modellbaus entsteht nach und nach ein zunehmend komplexer Kosmos installativer Erzählungen, die häufig ineinandergreifen oder aufeinander aufbauen.
Ihre Arbeiten wurden in Institutionen wie etwa im KW Berlin, dem Irish Museum of Modern Art, dem Halsey Institute of Contemporary Art, Charleston SC, oder der Bundeskunsthalle Bonn gezeigt. Arbeiten von Böhler & Orendt finden sich in verschiedenen öffentlichen Sammlungen, unter anderem in der Berlinischen Galerie, dem Neuen Museum Nürnberg und der Kunsthalle Göppingen.
Permanente Installationen im öffentlichen Raum sind im Park des Wildbads Rothenburg und im Innenhof des Bayerischen Landesamts für Statistik in Fürth zu sehen.
(Pressetext Neues Museum Nürnberg)